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„Schulden müssen zurückgezahlt werden“
Der ehemalige Bundesfinanzminister und Architekt des Euro, CSU-Ehrenvorsitzender Theo Waigel, wirft einen Blick auf die Europäische Union (EU). Und findet viel Gutes – von den Unternehmen über die Politik bis hin zu den Auswirkungen der Währungsunion. Daran ändert auch der Wahlsieg von Donald Trump bei den US-Präsidentschaftswahlen nichts, der Europa vor neue Herausforderungen stellt.
Guten Tag Herr Waigel, wir machen uns Sorgen um das Ansehen der EU. Wer über die Europäische Union redet, denkt schnell an Führungslosigkeit und Bürokratie. Sie sind einer der Väter der EU. Wie ergeht es Ihnen?
Es hat auch Mütter gegeben, Frau Merkel zum Beispiel ist eine, die die EU gestärkt hat.
Konkret: Das wichtigste europäische Projekt, das Sie als deutscher Finanzminister vorangetrieben haben, war die Einführung des Euro. Wie denken Sie heute über die gemeinsame Währung?
Das hat Europa in eine ganz neue Umlaufbahn katapultiert. Man muss sich den mühsamen Prozess bis dahin vor Augen halten. Der Weg begann 1979. Zunächst mussten wir zu einer Konvergenz in den Wirtschafts- und Finanzpolitiken der Länder kommen, um einen Währungsraum zu bilden. Es gab ja im Zeitalter der nationalen europäischen Währungen immer wieder heftige Krisen, was alle, die heute mit dem Euro nicht zufrieden sind, natürlich vergessen haben. Noch in den Neunzigerjahren musste die Deutsche Bundesbank mit fast 100 Milliarden D-Mark in einem Monat intervenieren, um den französischen Franc zu retten. Als die D-Mark hart war wie 1995, hatten wir die größte Krise auf dem Arbeitsmarkt. Ich habe dann 1996 den Stabilitätspakt von Dublin durchgesetzt. Und wir schufen mit der Europäischen Zentralbank eine Institution, die über die Umsetzung und Einhaltung wacht. Ich finde in diesem Zusammenhang die Erkenntnisse des jüngsten Nobelpreisträgers interessant, der nachgewiesen hat, dass demokratisch geprägte Institutionen auf Dauer den Wohlstand fördern.
1999 kam dann in den ersten Ländern wie Deutschland der Euro …
Ja. Das war ein Kraftakt. Man muss sich vergegenwärtigen, dass wir in Deutschland gleichzeitig noch die Finanzierung der deutschen Einheit schultern mussten. Wenn ich manchen Politiker heute stöhnen höre, kann ich nur den Blick auf diese Zeit empfehlen.
Die Schuldenkriterien von Maastricht wurden seither x-mal von unterschiedlichen Ländern gerissen. Hat das Regelwerk überhaupt noch eine Bedeutung?
Natürlich. Schauen Sie sich doch an, was in der Zwischenzeit passiert ist. Wir hatten eine Finanzkrise mit anschließender Staatsschuldenkrise. Beinahe jedes Land hat in dieser Zeit die Maastricht-Kriterien gerissen. Südeuropa sowieso, Italien, aber auch Frankreich und eben Deutschland. Die Maastricht-Verträge haben dazu geführt, dass viele dieser Länder ihre Hausaufgaben gemacht haben: Krisenländer wie Spanien, Italien, Portugal, Zypern und Griechenland stehen jetzt deutlich besser da. Und die implizite Staatsschuld, also die, die auch Verpflichtungen für die Zukunft beinhaltet, ist teilweise sogar geringer als die von Deutschland. Das ist ein Druck, der nur von Europa und den gemeinsamen Kriterien ausgehen kann. Maastricht hat eine heilsame Wirkung.
Was halten Sie von der inzwischen im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse?
Sie entspricht dem Ziel einer nachhaltigen Finanzpolitik. Und Nachhaltigkeit ist das Thema der Finanzpolitik, weswegen ich nicht verstehe, dass jene, die Nachhaltigkeit propagieren, es in diesem Fall damit nicht so genau nehmen. Die Demografie zwingt uns, darüber nachzudenken, was wir einer jüngeren Generation hinterlassen. Wie die Schuldenbremse konstruiert ist und wann sie einsetzt, darüber lässt sich reden. Ausnahmefälle müssen verantwortlich gehandhabt werden, und man braucht Exitstrategien, um wieder in einen normalen Modus zurückzufinden. Aber klar ist: Schulden müssen zurückgezahlt werden, die Schuldenlast muss tragfähig sein.
Grafik: KD 1
Das Ja oder Nein zur Schuldenbremse dominierte die Haushaltsberatungen. Die Koalition ist letztlich daran zerbrochen.
Das ist nicht mehr normal. Die Menschen sind doch entsetzt über das, was sich da abspielt. Die Bürger verlieren das Vertrauen in die Politik. Wenn die drei maßgeblichen Leute in der Regierung alle einen anderen Weg gehen, dann konnte das nicht gut gehen. Zur Erinnerung: 1966 fehlten drei Milliarden Mark, um den Haushalt zu decken, worauf die FDP aus der Regierung von Ludwig Erhard ausstieg. 1983 konnte Helmut Schmidt die notwendige Konsolidierung nicht durchsetzen. Das hat zu dem Balanceakt von Hans-Dietrich Genscher und Graf Lambsdorff geführt, der damit endete, dass die FDP an die Unionsseite gewechselt ist. Christian Lindner hat den besten Zeitpunkt versäumt, jetzt ist er entlassen.
Wie guckt Theo Waigel, der überzeugte Europäer, derzeit auf Deutschland?
Wir ziehen leider den EU-Durchschnitt nach unten, weil wir in einer hausgemachten Krise stecken. Aber die gute Nachricht: Da sie hausgemacht ist, lässt sich das auch wieder ändern. Und dann wird es auch Europa wieder besser gehen. Wir sind die stärkste Volkswirtschaft, wir sind in Europa damit zur Führung verpflichtet. Aber genau das liefern wir nicht. Führung in Europa kommt nicht vom Kanzler mit einer kraftlosen Minderheitsregierung. Es findet keine gemeinsame Politik mit Frankreich statt. Dadurch sind wir als Führungsmacht ausgefallen.
Klingt etwas desillusioniert und nicht danach, als würde Europa auf Sie noch die Faszination ausüben wie früher.
Wer wie ich 1939 geboren ist und 1945 schon bewusst miterlebt hat, für den sind 90 Prozent der Wünsche, die man mit Blick auf Europa haben konnte, in Erfüllung gegangen. 1944 ist mein 18-jähriger Bruder in Lothringen gefallen. Der Weg von Kehl nach Straßburg ist heute so einfach wie der von Ulm nach Neu-Ulm. Das ist ein beachtlicher Paradigmenwechsel in Europa. Wir haben eine intensive Zusammenarbeit, es gibt einen gemeinsamen Markt, eine gemeinsame Währung, wir stehen gemeinsam auf der Seite der Ukraine in deren Abwehrkampf gegen Russland. Wir sind als EU ein echter Global Player, der Euro ist eine der wichtigsten Leitwährungen. 20 Prozent der Währungsreserven werden in Euro gehalten. Er ist kein Spielball des Dollar oder des Renminbi.
Und trotzdem ist das Faszinierende dem Mühsamen gewichen, oder?
Europa war immer mühsam. Auch weil es Gott sei Dank eine Demokratie und kein autoritärer Staat ist. Aber man muss Realist bleiben: Die Vereinigten Staaten von Europa, die einst am Horizont möglich schienen, wird es nicht geben. Die Vereinigten Staaten in Europa, in der die Großen auf die Kleinen Rücksicht nehmen, aber schon.
Was schätzen Sie an Europa?
Gut, wir haben bei Infrastruktur, Investitionen, Digitalisierung und KI Nachholbedarf, aber niemand hindert uns, vorne mitzuspielen. Allein schon, weil wir gute Universitäten und Forschungseinrichtungen haben. Die soziale Marktwirtschaft ist das beste Exportgut, das Europa zu bieten hat. Und wir haben gezeigt, dass fast 30 früher verfeindete Nationalstaaten eng zusammenarbeiten können.
Was für Unternehmens-Leuchttürme sind durch die Zusammenarbeit entstanden?
Da fällt mir Airbus ein – ein faszinierendes europäisches, vor allem deutsch-französisches Unternehmen. Ich habe in Sachen Compliance dort gearbeitet, deswegen kenne ich dieses Gemeinschaftsprojekt. In der Verteidigung wäre noch viel mehr möglich. Bei der Rüstungsbeschaffung und -entwicklung bräuchten wir noch mehr Zusammenarbeit. Das wäre dann ein echtes Leuchtturmprojekt. Auch eine Banken- und Kapitalmarktunion ist möglich und notwendig.
Die Briten sind nicht mehr dabei. Was denken Sie drei Jahre nach dem Brexit heute darüber?
Diese Fehlentscheidung hat Großbritannien und Europa geschadet. Die mangelhafte Beteiligung der jungen Generation beim Referendum hat dazu beigetragen. Die Jugend muss sich stärker für Europa begeistern.
Europa als Kontinent ist ja deutlich größer als die EU. Soll der Erweiterungsprozess vorangehen?
Ja, aber zu klaren Bedingungen und Kriterien, für Großbritannien sollte die Tür offenbleiben.
Hat die Europäische Union eigentlich auch protektionistische Züge?
Der Versuch, Handelsabkommen zu schließen, ist ein wesentliches Zeichen dafür, dass Protektionismus abgebaut werden kann. Wir treten für freien Wettbewerb ein. Leider ist der Prozess zum Stillstand gekommen, weil die EU dem Protektionismus anderer Länder begegnen muss. Wo der Wettbewerb international verfälscht ist, bleibt der EU gar nichts anderes übrig, als sich zur Wehr zu setzen. Das kann aber keine Dauerlösung sein.
Die EU sei inzwischen ein Bürokratie-Monster ohnegleichen, klagen beispielsweise Unternehmen, die von Brüssel reguliert werden. Trifft das zu?
Ja. Brüssel übertreibt gewaltig. Die Taxonomie in Europa ist ein Konjunkturprogramm für Spezialkanzleien. Oder ein anderes Beispiel: Wenn sich hier eine Bank ansiedeln will, prüft erst die Bafin, ob alles in Ordnung ist, und dann prüft die Kommune noch einmal genau das Gleiche. Das ist bürokratischer Unsinn. Die EU-Kommission müsste sich über das Thema Bürokratie dringend hermachen. Was wir brauchen, ist ein Entbürokratisierungskommissar.
Ach je, ein neuer Posten und damit mehr Bürokratie, um Bürokratie einzudämmen – meinen Sie, das klappt?
Sankt Bürokratius ist wahrscheinlich nie kleinzukriegen. Es ist eben ein ständiger Kampf zwischen Gerechtigkeit und Freiheit. Das ist eine Gratwanderung. Mit Regulierung lässt sich nicht alles gerecht verteilen. Und Freiheit kann zu Ungerechtigkeit führen. Beides muss in ein Gleichgewicht gebracht werden.
Foto: picture alliance / SVEN SIMON / Frank Hoermann
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