Klassisches „Make or Buy“ greift bei KI-Anwendungen zu kurz

Markus Schmid, KI Manager in der Open Digital Factory der DekaBank, in einem Artikel in der Börsen-Zeitung über die Notwendigkeit vielfältiger Beschaffungsmodelle zum Einsatz innovativer KI-Anwendungen

"Wer keine Entscheidungen trifft, wird von Entscheidungen getroffen" - diese Weisheit bekommen IT-Verantwortliche immer wieder zu spüren, wenn es um technologische Innovationen geht. Gerade bei Anwendungen im Bereich Künstliche Intelligenz (KI) geht es nicht mehr nur um die Entscheidung, Projekte mit internen Ressourcen umzusetzen oder extern einzukaufen, also um "make-or-buy". Denn die Entscheidungsdimensionen werden vielfältiger, da sich die Ökosysteme rund um KI-Anwendungen sich rasant entwickeln. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht, unterscheiden sich KI-Anwendungen kaum von herkömmlicher Software. Doch es gibt fundamentale Unterschiede zwischen KI und herkömmlicher Software, die dazu führen, dass Beschaffungs- und Betriebsmodelle neu gedacht werden.

Der wesentliche Unterschied ist, dass Daten bei KI-Anwendungen integraler Bestandteil der Software sind. Ohne große Mengen von Daten lassen sich diese Anwendungen nicht entwickeln. Zudem müssen es bereits für die Entwicklungsphase oft Daten aus produktiven Systemen sein. Insbesondere der Umgang mit personenbezogenen und vertraulichen Daten aus Produktivsystemen stellt hohe Anforderungen an die Informationssicherheit und den Datenschutz. In anderen Fällen sind die Daten zwar nicht vertraulich, sie sind aber schwer zu beschaffen, lizenzpflichtig oder haben Qualitätsmängel.

Hinzu kommt: Gerade Finanzinstitute müssen sich mit einer für sie neuen Art von Daten auseinandersetzen. Neue KI-Anwendungsfälle verlangen beispielsweise Luftbilder, Open Data, Social Media-, News-, Wetter- oder Sensordaten. Innovative KI-Lösungen beziehen eine Vielzahl an Datenquellen mit ein. Dabei fehlen in Banken oftmals noch die notwendigen Erfahrungen, um solche Daten zu beschaffen und bereitzustellen. Auch sind nicht alle Daten, die benötigt oder genutzt werden können, über professionelle Provider verfügbar. Hier werden neue Kollaborationsmodelle auch zwischen branchenfremden Unternehmen, in deren Rahmen beispielsweise Daten getauscht oder gemeinsam geschaffen und genutzt werden. Große KI-Anwender-Unternehmen beschäftigen sich schon heute mit dem Kuratieren von Datenbeständen als Unternehmensfunktion, also dem Aufspüren, Beschaffen und Verfügbarmachen möglichst wertvoller Datenbestände, sei es in Lizenz-, Tausch- oder Kooperationsmodellen. Noch weiter geht eine Gruppe von Anbietern, die weder die Daten noch die analytische KI-Lösung anbieten, sondern lediglich die Ergebnisse der KI-Analyse. Hier positionieren sich neben den großen Datenprovidern auch spezialisierte Unternehmen, die sich vor allem über die Güte ihrer Analyseverfahren hervorheben. Anwendungsbereiche sind beispielsweise Trendanalysen basierend auf großen Mengen mehrsprachiger Eingangsdaten, wie Nachrichten oder Social-Media-Beiträge.

Markus Schmid

KI-Manager in der Open Digital Factory der DekaBank

Ein zentraler Faktor bei der Entscheidung, ob eine KI-Anwendung gekauft oder im Unternehmen entwickelt wird, ist das intern vorhandene Know-How. Die Entwicklung von KI-Anwendungen stellt hohe Ansprüche an das methodische und technische Fachwissen, vor allem aber auch an das Wissen über die verwendeten Daten und den dahinterliegenden Geschäftskontext. Anders als in der herkömmlichen Softwareentwicklung sind Rollen, Aufgabenprofile und Ausbildungspfade für KI-Expertinnen und -Experten meist noch im Werden. Waren zu Beginn sehr universale Rollen gefragt, beispielsweise "Data Scientist", geht die Entwicklung inzwischen eher zu interdisziplinären Teams mit "T-shaped"-Profilen, also Wissen in der Breite und Spezialisierung in einer bestimmten Disziplin. Wie genau das Wissen intern gebündelt wird, ist dabei derzeit noch sehr unterschiedlich: in einem Competence Center, in dezentralen Business-Einheiten oder gleich in einer Unternehmenstochter.
Der Mangel an langjährig erfahrenen KI-Fachkräften intern und die Unsicherheiten darüber, wie interne Teams für die KI-Entwicklung aufzustellen sind, dürften bei den meisten Unternehmen noch die Regel sein. Entsprechend groß ist daher bislang die Zurückhaltung, KI-Anwendungen intern zu entwickeln. Diese Marktlücke bedienen inzwischen vor allem die großen Hyperscaler und bieten standardisierte KI-Anwendungen oder -Services, die sich einfach aus der Cloud beziehen und als Komponenten in eigenen Anwendungen einbauen lassen. Einfachheit und Schnelligkeit sprechen für dieses Modell. Die Bandbreite der angebotenen KI-Services reicht weit, von generischen Bausteinen wie Anomalie-Erkennung, Natural Language Understanding, Chat Bots und Übersetzung bis hin zu spezifischen Bausteinen wie Sentiment Analyse und Content-Moderation. Allerdings können -  wie bei allen Cloud-Anwendungsfällen - Informationssicherheit und Datenschutz Grenzen setzen. Außerdem sind diese Services zwangsläufig auf einen Massenmarkt ausgerichtet. So sind bei der Sprachverarbeitung eher englischsprachige Anwendungsfälle optimiert, die Anpassung auf andere Sprachen oder sogar fachliche Besonderheiten kann somit schwerfallen. Und es handelt sich nicht immer um Bausteine, die nicht die anderen Elemente eine KI-Anwendung abdecken, beispielsweise die Daten-Vorverarbeitung und -Aufbereitung oder Benutzeroberflächen für Endbenutzer.

Daher bieten auch spezialisierte SaaS-Dienstleister "out of the box"-Lösungen für spezielle KI-Anwendungsfälle an. Ein Beispiel hierfür sind Contract Management Systeme, die die Analyse und Auswertung von Vertragsdokumenten über Natural Language Processing dramatisch vereinfachen oder sogar automatisieren können. Typischerweise verfügen diese Anwendungen sowohl über eine Dokumentvorverarbeitung als auch Funktionen für Dokument-Workflows und das Dokumenten-Management, zugänglich über einfach zu bedienende Benutzeroberflächen. Doch nicht umsonst findet man solche Standard-SaaS-Anwendungen nur in besonderen "Datenwelten", wo die Abweichungen zwischen den Daten der verschiedenen Anwendungsfälle gering sind. Gerade Vertragsdokumente eignen sich für das Training eines Standard-KI-Modells, das für viele Anwender passt. Sobald die Variationen in den Dokumenten zu groß werden, genügt eine Standardlösung oftmals nicht mehr. Um aber auch bei diesen Anwendungsfällen ohne Eigenentwicklung auszukommen, ergeben sich "federated learning"-Szenarien und damit eine neue Form von Kooperation: Unternehmen teilen sich dabei den Entwicklungs- und Trainingsaufwand für die KI-Anwendung. Ein zentrales KI-Modell wird dabei an die spezifischen Daten der jeweiligen Kooperationspartner angepasst, ohne dass diese ihre Daten gegenseitig austauschen müssen. Für einen solchen Anwendungsfall haben sich beispielsweise die DekaBank für die Deka Immobilien Investment sowie weitere Immobilienunternehmen an dem Lösungsanbieter Architrave beteiligt, um gemeinsam eine KI-Lösung zur automatischen Prozessierung und Klassifikation speziell von immobilienwirtschaftlichen Dokumenten zu entwickeln. Im Zusammenspiel mit einem Dokumenten-Managementsystem lassen sich nicht nur Kosten bei der Dokumentverwaltung sparen, sondern auch zentrale Dokumente wie Betriebserlaubnisse schneller auffinden.
Markus Schmid

„KI-Anwendungen werden zukünftig bei Investitions­entschei­dungen das Vokabular stark erweitern: Ein klassisches ,Make or Buy‘ wird den Wechselwirkungen zwischen KI-Anwendung und Daten in den neuen Ökosystemen nicht mehr gerecht.“

Die Überlegungen mancher Anbieter gehen aber weit über die Bereitstellung einzelner Lösungen hinaus. Sie wollen Daten, spezialisierte KI-Services und Entwicklungsinfrastruktur auf einer Plattform bündeln. Munich Re pilotiert aktuell die Plattform "LAIA", für die die DekaBank der erste Kooperationspartner aus dem Banking-Bereich ist. Diese Plattform umfasst die notwendigen Prozesse, Partner und die technische Infrastruktur für die kooperative Entwicklung von KI-Lösungen. Als Plattformanbieter kann LAIA darüber hinaus auch den regulatorischen Aufwand im Beschaffungsprozess von Kunden mindern, indem sie Standardverträge mit den Dienstleistern schleißt, die beispielsweise die Richtlinien der European Banking Authority reflektieren und die Dienstleister entsprechend prüft.

Es scheint, also ob beim Thema KI derzeit alle Zeichen auf "buy" statt "make" stehen. Doch in einer großen Anzahl von KI-Anwendungsfällen sind Eigenentwicklungen die optimale Wahl - insbesondere wenn es um das Kerngeschäft geht und ein Wettbewerbsvorteil entstehen soll. Sensible Daten, besondere Anforderungen an die Transparenz der KI-Lösung oder Anforderungen aus dem Auslagerungsmanagement können weitere Gründe sein, weshalb interne Teams zum Einsatz kommen. Ein wesentlicher Vorteil dabei ist auch, dass das Unternehmen internes Know-How aufbaut. Das kann bis zur wissenschaftlichen Forschung gehen: KI-Eigenentwicklungen findet man bei der Deka beispielsweise im Quantitativen Fondsmanagement, wo gleichzeitig im Rahmen des hauseigenen Forschungsinstituts IQ-KAP auch zu KI geforscht und veröffentlicht wird. KI-Anwendungen werden zukünftig bei Investitionsentscheidungen das Vokabular stark erweitern. Ein klassisches "make oder buy" wird den Wechselwirkungen zwischen KI-Anwendung und Daten in den neuen Ökosystemen nicht mehr gerecht. Begriffe wie "share", "trade", "collaborate" und "federate" werden gängig werden. Und Unternehmen müssen auf dieser umfangreichen Tastatur das Spielen lernen, wenn sie nicht von Entscheidungen getroffen werden, sondern die Zukunft aktiv mitgestalten wollen.